Rudolf Steiner: Eröffnungsansprache

„Aus den Worten des Herrn Molt werden Sie haben entnehmen können, aus welchem Geiste heraus er die Initiative ergriffen hat zur Begründung dieser seiner Waldorfschule. Sie werden aus seinen Worten heraus vernommen haben, dass diese Gründung nicht irgendeiner alltäglichen Absicht entsprungen ist, sondern dem Rufe, der so klar heraustönt aus der Entwicklung der Menschheit gerade in unserer Zeit und der doch so wenig vernommen wird. Indem aus dieser Entwicklung der Menschheit heraustönt vieles, das eingefasst werden kann in den Rahmen des sozialen Gestaltens der Menschheitsgeschichte, des sozialen Neuaufbaues, liegt auch etwas in diesem Rufe, das nicht überhört werden darf: es liegt in ihm vor allen Dingen die Erziehungsfrage. Und man kann überzeugt sein, dass nur diejenigen den Ruf nach sozialer Neugestaltung richtig hören in dem verwirrenden Chaos von Forderungen der Gegenwart, die seine Wirkung bis in die Erziehungsfragen hinein verfolgen...

Für mich ... war es eine heilige Pflicht, dasjenige, was in den Absichten ... bezüglich der Gründung der Waldorfschule lag, so aufzunehmen, dass diese Schule herausgestaltet werden könne aus dem, was man glauben darf, in der Gegenwart durch die Geisteswissenschaft gewonnen zu haben. Es soll diese Schule wirklich hineingestellt werden in das, was gerade in unserer Gegenwart und für die nächste Zukunft von der Entwicklung der Menschheit gefordert wird.“

Rudolf Steiner schilderte ausführlich die dreifache große Aufgabe des Erziehers, im heranwachsenden Menschen zu erwecken

„eine lebendig werdende Wissenschaft, eine lebendig werdende Kunst, eine lebendig werdende Religion“.

Die Waldorfschule sollte in dieser Richtung den ersten mutigen Schritt unternehmen:

„Die Überzeugung, dass der Ruf, der aus der Entwicklung der Menschheit heraustönt, für unsere gegenwärtige Zelt einen neuen Geist fordert und dass wir diesen neuen Geist vor allen Dingen in das Erziehungswesen hineintragen müssen, diese Überzeugung ist es, die den Bestrebungen dieser Waldorfschule, die ein Musterbeispiel sein sollte nach dieser Richtung hin, zugrunde liegt.“

Er ging dann auf die wesentlichen Erziehungsgrundsätze ein, die in der Schule verwirklicht werden sollten, und sprach auch klar aus, was nicht beabsichtigt sei:

„So ... möchten wir aus einem neuen Geiste heraus diese Waldorfschule gestalten. Und Sie werden auch bemerkt haben, was diese nicht werden soll. Jedenfalls soll sie nicht werden eine Weltanschauungsschule. Derjenige, der da sagen wird, die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gründe die Waldorfschule und wolle nun ihre Weltanschauung hineintragen in diese Schule – ich sage das jetzt am Eröffnungstage –, der wird nicht die Wahrheit sprechen. Uns liegt gar nichts daran, unsere ‚Dogmen’, unsere Prinzipien, den Inhalt unserer Weltanschauung dem werdenden Menschen beizubringen. Wir streben nicht danach, eine dogmatische Erziehung zu bewirken. Wir streben danach, dass dasjenige, was wir haben gewinnen können durch die Geisteswissenschaft, lebendige Erziehungstat werde ...

Ihnen, die Sie die Eltern der Kinder sind, die als erste in diese Schule hineingeschickt werden, Ihnen darf es gesagt werden, dass Sie nicht nur Pioniere sind für eine menschliche persönliche Absicht, sondern für eine Kulturforderung unserer Zeit und dass Sie, was jetzt geschehen soll in Bezug auf die Waldorfschule, nur richtig auffassen werden, wenn Sie sich als solche Pioniere fühlen ...

Indem wir die Grundlage und den Quell für das Erziehungswesen in dem ganzen Menschenwesen suchen und durch das ganze Menschenwesen auszubilden versuchen werden, möchten wir die erzieherische soziale Frage hineinstellen in die gesamte soziale Frage unserer Zeit. Einheitsschule - so sagt unsere Zeit. An keine andere als eine Einheitsschule wird diejenige Erziehungs- und Unterrichtskunst herantreten, die so, wie es angedeutet wurde, aus dem ganzen Menschenwesen heraus ihr Können schöpfen will. Soll die Menschheit künftig sozial gerecht leben können, dann wird sie zunächst sozial richtig ihre Kinder erziehen müssen. Dass das der Fall sein könne, dazu möchten wir ein Kleines beitragen durch die Waldorfschule.

Möge das, was wir vielleicht nur teilweise erreichen werden, wenn wir auch das Beste Wollen haben, seine Kraft nicht schon in unserem schwachen Versuch erschöpfen. Möge es Nachfolger finden! Denn wir haben die Überzeugung: der schwache Versuch kann vielleicht durch Gegnerschaft und Unverstand scheitern; dasjenige aber, was als Kern in dieser Bestrebung liegt, es muss Nachfolge finden. Denn wenn in das Bewusstsein der ganzen Menschheit eine echte soziale Erziehungs- und Unterrichtskunst einzieht, dann wird im ganzen sozialen Leben die Schule in der richtigen Weise drinnen stehen. Möge ein Kleines zu diesem großen Ziele die Waldorfschule beitragen können.«

Nach Guenther Wachsmuth: Rudolf Steiners Erdenleben und Wirken, Dornach 1964.
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